Zurück aus Montevideo ging es wieder in unser vorheriges Hostel, wo wir die erste Nacht geschenkt bekommen haben, da ich mich eines Tages freiwillig um das W-Lan gekümmert habe, was auf dem unteren Stockwerk einfach nicht zu gebrauchen war. Von anfangs sechs Geräten inklusive Router und gefühlten Brieftauben (so alt war die Technik) habe ich die Anzahl auf drei Geräte reduziert. Schlussendlich lief das W-Lan überall im Hostel. Als Dank gab es am Ende eine Nacht gratis, was unser Budget sehr erfreute.
Samstag: Bestes Spieltagswetter, angenehme 22 Grad und keine Spur von Regen. Morgens haben wir natürlich noch das BVB-Spiel live im Free-TV angeschaut und Mittags ging es dann los zum vereinbarten Treffpunkt am Bahnhof…leider ohne Mira :-(. Die Erkältung war so schlimm, dass es einfach nicht ging und Mira besser im Hostel geblieben ist, um sich auszukurieren. Für Patagonien war es wichtig, fit zu werden. Ich versprach, viele Videos zu machen, damit sie sich selbst einen Eindruck machen konnte.
Also auf ging es zum Spiel Estudiantes de La Plata gegen River Plate.
Über Kevin, den wir per Couchsurfing kennengelernt haben und auch schon beim Asado waren, wurde der Treffpunkt ausgemacht. Mit dabei waren drei weitere Mädels und zwei Jungs aus aller Welt.
Die Anreise mit dem Bus ist üblich und auch für die Gauchos recht erschwinglich. Doch leider wurde daraus nichts, da sich der Verband entschieden hat, nun doch Auswärtsfans zuzulassen. So durften 6.000 River Plate Fans mit nach Quilmes ins Stadion. Hier hat Kevin dann umgeschwenkt und entschieden, mit der Bahn zu fahren, da der Bus zu gefährlich ist, weil auf der Strecke dann doch die einen oder anderen Busse von gegnerischen Fans angehalten werden, um Schlägereien anzuzetteln. In der Regel haben nur Heimfans Zugang zum Stadion, um diese Situation zu vermeiden. Die Ausnahme beim Spiel gegen River Plate konnte uns aber auch Kevin nicht erklären.
Am Treffpunkt konnte man schon erkennen, dass Kevin dem Spiel entgegenfieberte. Er war strahlend über beide Backen gepaart mit tief sitzender Anspannung. Er verpasst auch sonst so gut wie kein Spiel. Estudiantes ist ein eher kleinerer Club. River Plate dagegen zählt zu den großen Klubs, welcher es erst am vorherigen Mittwoch ins Finale der Copa Libertadores geschafft hat.
Am Bahnhof angekommen gab es eine kleine Überraschung, denn es fuhr keine Bahn zum Stadtteil Quilmes. Durch eine Oberleitungsstörung wurde der gesamte Zugverkehr über Quilmes lahmgelegt. Nebenbei sei es erwähnt, dass der Bahnhof sehr schön anzuschauen und sehr sauber gehalten ist. Angeblich hätte man auch nur ca. 20 Cent für die Fahrt bezahlt.
Also ging es am Ende mit Uber bis kurz vors Stadion über die Autobahn für ca 2,50€ pro Person. Auf dem Weg ging es u.a. am Viertel La Boca vorbei, wo man das Stadion der Boca Juniors auch gut erkennen konnte. Die Fahrt dauerte eine gute halbe Stunde.
Kevin meinte später, dass auf dem Weg die Busse von River Plate Fans angehalten und mit Steinen beworfen wurden. Und zwar nicht von Estudiantes Anhängern, sondern von Boca Fans. Der Hintergrund dafür dürfte wohl das historische Finale in der Copa Libertadores sein, wo River nächste Woche auf Boca trifft, das „El Clásico“ von Argentinien sozusagen. Der Angriff ist dann wohl ein Vorgeschmack darauf, was man hier erwarten kann, wenn beide Fangruppen aufeinander treffen. Fussball ist hier weniger sinnlose Gewalt sondern sehr tief sitzende Leidenschaft, welche unglücklicherweise in dieser Gewalt endet, was es natürlich keinen Stück besser macht. Die Leuten leben diesen Sport regelrecht und nehmen Beleidigungen gegen den Verein als tiefste persönliche Verletzung auf. Auf River Fans sind wir übrigens nicht getroffen, da der Zugang für beide Fantruppen weiträumig getrennt war.
Das Stadion im Stadtteil Quilmes ist nicht das eigentliche Stadion von Estudiantes, da dieses in dem Vorort La Plata liegt und sich derzeit im Umbau befindet.
Schnell waren die Stehplatz-Tickets für ca. 8,50€ pro Person geholt und dann ging’s zum Kiosco, um für jeden einen Liter Bier aus der Flasche zu holen, Kostenpunkt ca. 2,50€. Als Vergleich: Die Tickets für River Plate oder Boca im Heimstadion bekommt man nicht mehr so einfach, da die diese meistens ausverkauft sind und so ziemlich jeder Sitzplatz an eine Art Dauerkarte geheftet ist. Das lassen sich Reiseveranstalter natürlich auch gut bezahlen. Ein Spiel von Boca Juniors oder River Plate hätte weit über 50 Euro pro Person gekostet und wäre außerdem eine Art Führung gewesen. Mit Kevin bot sich die Chance, die Rituale viel näher zu erleben und dabei auch noch wesentlich günstiger zu kommen.
Derzeit wird das Stadion von einem ehemaligen Erstligisten QAC (Quilmes Atletico Club) verwendet und fasst ca. 30.000 Zuschauer. Insgesamt waren ca. 27.000 anwesend, was der Stimmung aber keinen Abbruch tun sollte. Es war sogar mehr Stimmung als in manchen Bundesliga Stadien mit doppelt so vielen Zuschauern.
Auf dem weiteren Weg zum Stadion wurden schon einige Straßen gesperrt, da man keinen Alkohol mit hineinführen durfte und auch generell auf Waffen kontrolliert wurde. Alkohol ist bei Spielen verboten und auch so konnte ich keinen einzigen Stand im Stadion erkennen, der irgendwas verkauft hätte.
Also ist es Tradition, in einer der Querstraßen an einer Ecke Halt zu machen und die eine oder andere Choripan, was unserer guten Stadionwurst gleichkommt, zu essen. Fehlen darf es natürlich auch hier nicht, ein kühles Bier bei sommerlichen Temperaturen zu trinken. In der Regel habe ich gesehen, dass die Leute zu Brahma aus Brasilien oder das eigene Quilmes greifen. Beides ist relativ gesehen günstig und gut bekömmlich. Hier wurde ich dann auch von Kevin eingekleidet, denn er hatte ein paar Trikots mit, damit man auch ins Bild der Tribüne passt. Ich muss sagen, rot und weiß in Kombination steht mir einfach nicht… da bleibe ich dann doch lieber bei Schwarz-Gelb. An diesem Tag habe ich das aber sehr gern getragen, weil mir Kevin und sein Verein von Grund auf sympathisch waren.
Witzigerweise gibt es keine Toiletten vor dem Stadion oder irgendwo in der Nähe. Der Stadtteil gleicht einem Dorf und auf die Frage nach einem WC werden einem alle vier Ecken der Straßenkreuzung gezeigt, völlig egal, ob da ein Busch oder eine Laterne steht oder das alte Mütterchen aus dem Fenster lugt. Das Alkoholverbot im Stadion hat sicherlich seinen Sinn, um die hier herrschenden Emotionen u. U. besser in den Griff zu bekommen, allerdings weiß ich nicht was besser ist: 1.) Die Leute betrinken sich im Stadion oder 2.) Sie trinken mindestens die gleiche Menge direkt vor dem Spiel. Ich denke, die Antwort muss jeder für sich finden. Der ein oder andere hat auf jeden Fall davor schon das ein oder andere Gläschen genascht, gut zu erkennen am gelallten Spanisch und/oder maximaler Breitennutzung des Weges. Herrlich, das zu erleben! Nach drei weiteren Halben ging es für uns dann auch zum Stadion. Noch ca. 1 Stunde bis zum Anpfiff. Die Vorfreude stieg auch bei mir weiter an.
Zwei Blocks vor dem Stadion kamen die ersten Kontrollen. Die Damen wurden von Polizistinnen durchsucht, die Herren von Polizisten. Die Kanadierin, die mit uns dabei war, hatte einen Lippenstift dabei. Dieser wurde ihr kurzerhand abgenommen, Grund: es könnte eine Waffe sein. Die Polizistin meinte zu ihr, dass sie den Lippenstift nach dem Spiel wieder abholen kann. Dazu lachte Kevin nur und meinte zur Kanadierin, dass sie diesen zu 1000 prozentiger Sicherheit nicht mehr wiedersieht. Auf dem Revier wird man diesen wohl auch nicht wieder auffinden. Nennen wir es mal Eigenbedarf oder Schwund. Kevin hat parallel versucht, Cannabis mit ins Stadion zu nehmen, was ihm auch abgenommen wurde, natürlich gibt es auch da kein einheitliches Verbot.
Im Stadion angekommen, konnte man auf der anderen Seite die zahlreichen River Plate Fans singen und tanzen hören bzw. sehen. Kurz vor Spielbeginn fehlte noch eine große Anzahl an Zuschauern, was u.U. mit den Bahnproblemen zu tun hatte. Aber auch das löste sich ein paar Minuten nach Spielbeginn. Die Stimmung baute sich nach flachem Anfang und steigender Zuschauerzahl auf und so waren für mich nur noch die Estudiantes Fans zu hören. Klar, ich war auch mittendrin in der Hauptstehtribüne, der ganze Zaun wurde mit Bannern verhangen, sodass man unten eigentlich nichs mehr sehen konnte. Egal für die Fans, Hauptsache River Plate sieht, wer hier Herr im Haus ist. Es war ein sehr gutes Spiel, viel Tempo, viele Angriffe, hin und her. Man hatte nie das Gefühl das hier jemand auf Unentschieden spielen möchte, lieber das Risiko eingehen und verlieren, als zu mauern. Das fand ich sehr beeindruckend, es war viel Energie im Spiel.
Natürlich kamen dazu die ganzen Gesänge auf Spanisch. Ich lerne gerade noch die ersten Brocken, sodass ich nicht viel verstehen konnte. Nagut außer „Puta“, das kam sehr häufig vor und richtete sich wohl hauptsächlich gegen River und seine Fans. Komisch eigentlich, dass man einige Schimpfwörter auf Fremdsprachen meistens als erstes mitbekommt und auch lernt. Geht wohl nicht nur mir so. Hat darüber mal jemand eine wissenschaftliche Arbeit geschrieben?!
Im weiteren Spielverlauf wurde auch immer wieder ein bestimmter Spieler verehrt und gefeiert: Rodrigo „Chapu“ Brana mit der Nummer 22. Eine Tribüne im Stadion in Quilmes ist sogar nach ihm benannt. Derzeit spielt er aber bei Estudiantes. Nichts weiter besonderes, wäre er nicht bereits 39 Jahre alt und teilweise flinker als der ein oder andere 20 Jährige auf dem Platz. Respekt dafür!
Immer wieder zog ein Hauch von Cannabis-Geruch durch die Reihen, die einen oder andern haben es wohl doch geschafft, was reinzuschmuggeln. Auf den sanierungsbedürftigen Toiletten wurde das Wasser scharenweise aus den Wasserhähnen getrunken und sich der Kopf gewaschen. Gute Stimmung, noch immer 0:0.
Die zweite Halbzeit war ähnlich, gutes Spiel, gutes Tempo, die Stimmung immer besser. Dann ein Freistoß für Estudiantes, abgefälscht, Tooooor! Das Stadion flippte förmlich aus, um mich herum umarmte sich jeder, man hatte das Gefühl, dass das Stadion gleich abgerissen wird. Zufällig hatte ich im richtigen Moment die Kamera an und das Tor gefilmt, siehe weiter unten. Ich kam mir kurzzeitig vor wie auf der kleinen Südtribüne. Jetzt ging es richtig ab, die Zäune wurden beklettert, gewippt, gesungen, gefeiert, bis zum Ende. Am Ende stand ein 1:0 Sieg und alle waren glücklich.
Lange im Stadion verweilen? Fehlanzeige! Kevin scheuchte uns regelrecht nach draußen. Das gleiche taten die anderen Fans auch, unter anderem seine Truppe, quasi seine Freunde, mit denen er normalerweise gemeinsam zu den Spielen fährt. Das war eine reine Sicherheitsmaßnahme: Lieber schnell den Zug als einer der Ersten nehmen, bevor man auf Scharen von River Fans trifft und in eine Konfrontation gerät. Im Zug war es dann wieder ruhig und die Müdigkeit setzte bei allen ein. Es war echt ein Erlebnis, hier bei einem Spiel gewesen zu sein und mal das ganze Prozedere kennenzulernen. Es ist super, dass es Leute wie Kevin gibt, die Ihre Kultur aus freien Stücken anderen zeigen und auch so dafür leben, dass man noch näher dabei sein darf. Das gilt für seinen generellen Einsatz, auch beim Asado oder organisierten Barabenden. Dafür danken wir ihm noch immer sehr! Kevin und ich haben ausgemacht, dass wenn er mal in Deutschland ist, ich ihn ins Westfalenstadion mitnehme.
Im Hostel angekommen, gab es dort auch noch ein Asado. Mira ging es glücklicherweise schon wieder wesentlich besser, sodass sie rechtzeitig fit wurde für den Flug und die Reise am Sonntagmorgen nach Patagonien. Der Abend ziehte sich dann doch bis 01:00 Uhr, weil wir uns noch mit den neu angereisten Gästen verquatscht hatten. Aufstehen war um 04:30 Uhr angedacht. Ich bin also wach geblieben, um durchzumachen. Für 3,5 Stunden wollte ich mich dann auch nicht mehr hinlegen. Mal schauen, was Patagonien so zu bieten hat.















